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Die Bedeutung der Regelbeispiele geht über die direkte Folge der Indizwirkung für die Strafrahmenverschiebung hinaus.
Insbesondere knüpft § 376 Abs. 1 Halbsatz 1 AO daran eine Verlängerung der Verjährungsfristen, womit das Steuerstrafrecht vom System des allgemeinen Strafrechts abweicht, da gemäß § 78 Abs. 4 StGB Schärfungen für besonders schwere Fälle für die Berechnung der Verjährungsfristen unerheblich sind.
Weiterhin stellt die Verwirklichung eines besonders schweren Falls nach den Nr. 2 bis 6 einen Sperrgrund für eine wirksame Selbstanzeige dar (§ 371 Abs. 2 Nr. 4 AO). Nr. 1 (großes Ausmaß) ist dabei nicht genannt, da § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO ausdrücklich einen Betrag von 25.000 EUR als Sperrgrund bestimmt.
Im Gesetz ist keine feste Grenze für das große Ausmaß bei der Steuerhinterziehung bestimmt.
Der BGH nahm zunächst eine Unterscheidung der Betragsgrenze für das große Ausmaß danach vor, ob der Täter dem Fiskus Zahlungen vorenthalten und damit den Steueranspruch lediglich gefährdet hat (dann sollten 100.000 EUR als Betragsgrenze gelten) oder sich Erstattungsansprüche erschlichen hat (sogenannter „Griff in die Kasse“), dann sollte die Betragsgrenze 50.000 EUR betragen.[1]
Diese Unterscheidung wurde jedoch relativ bald danach wieder aufgegeben, so dass der BGH nunmehr einheitlich von einer Betragsgrenze von 50.000 EUR für das große Ausmaß ausgeht.[2]
Eine intensive Diskussion darüber, ob der Betrag mit 50.000 EUR, 100.000 EUR oder einem anderen Betrag anzusetzen ist, wird nicht mehr geführt. Allerdings gibt es einige gewichtige Stimmen, die auf eine betragsmäßige Festlegung verzichten wollen.[3]
Noch nicht höchstrichterlich geklärt ist die Frage, inwieweit bei ungerechtfertigten Steuervorteilen eine Berechnung der steuerlichen Auswirkung erforderlich ist, um das große Ausmaß eines solchen Falls zu beurteilen.[4] Insbesondere bei Feststellungsbescheiden, die – jedenfalls nach der Rechtsprechung des BGH – Steuervorteile im Sinne des Abs. 1 darstellen sollen, ist diese Frage relevant.[5] Dabei kann es zum Beispiel um die gesonderte und einheitliche Feststellung des Gewinns einer Personengesellschaft gehen, deren einkommensteuerliche (oder körperschaftsteuerliche) Auswirkungen sich erst auf Ebene der Gesellschafter zeigen. Eine um 50.000 EUR zu niedrige Gewinnfeststellung für einen Gesellschafter hätte jedenfalls nach Anwendung des persönlichen Einkommensteuersatzes, ggf. Anrechnung der Gewerbesteuer eine Auswirkung, die deutlich unterhalb von 50.000 EUR anzusiedeln wäre. Der reine Blick auf den nominalen Betrag des Steuervorteils für die Bestimmung des großen Ausmaßes hätte daher eine wesentliche Ungleichbehandlung der beiden Taterfolge Steuerverkürzung und Erlangen eines ungerechtfertigten Steuervorteils zur Folge. Gleiches gilt für Verlustfeststellungsbescheide oder Bescheide zur Feststellung von Grundbesitz für die Erbschaft- und Schenkungsteuer, für die Grunderwerbsteuer oder für die Grundsteuer.
Ein ähnliches Problem stellt sich für die Steuerhinterziehung auf Zeit. Es ist zwar geklärt, dass für die Bestimmung des Taterfolgs der Steuerhinterziehung der nominale Betrag aus dem Vergleich zwischen der festgesetzten Ist-Steuer und der materiell richtigen ggf. nach Bereinigung durch das Kompensationsverbot errechneten Soll-Steuer maßgeblich ist. Wirtschaftlich betrachtet liegt der Nutzen des Täters und vor allem die vom Täter gewollte und tatsächlich herbeigeführte Schädigung des Steueraufkommens jedoch in dem Zinsschaden, der durch das Vorenthalten der Liquidität für die Dauer der Steuerhinterziehung entstanden ist. Für die Strafzumessung ist dies der entscheidende Anknüpfungspunkt. Damit muss diese Größe auch bei der Beurteilung der Frage nach dem großen Ausmaß maßgeblich sein.[6]
Die Taterfolge mehrerer tateinheitlich verwirklichter Steuerhinterziehungen sind für die Beurteilung des großen Ausmaßes zusammenzurechnen.[7] Allerdings ist der Anwendungsbereich für mehrfache tateinheitliche Steuerhinterziehungen heute relativ begrenzt, da – anders als früher[8] – auch dann nicht von tateinheitlichen Steuerhinterziehungen auszugehen ist, wenn mehrere Steuererklärung zusammen (in Papierform in einem Briefumschlage oder elektronisch zeitlich dicht aufeinander folgend) abgegeben werden.[9] Insofern gilt für die regelmäßig vorkommenden Fälle (Jährliche Einkommen-, Gewerbe- und Körperschaftsteuererklärungen, dass die Beurteilung des großen Ausmaßes je Steuerart und innerhalb derselben Steuerart wiederum je Veranlagungsjahr zu erfolgen hat.
Wer seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger missbraucht, um eine Steuerhinterziehung zu begehen, verwirklicht das Regelbeispiel des besonders schweren Falls im Sinne des Abs. 3 Satz 2 Nr. 2.
Wer Amtsträger ist bestimmt sich nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Ausdrücklich wird in Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 zwar nur § 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB für die Definition des Europäischen Amtsträgers in Bezug genommen, § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB gilt jedoch über § 369 Abs. 2 AO ohnehin (s. auch § 7 AO).[10]
Dabei kommt sowohl die Hinterziehung der Steuer für fremde wie auch für eigene Rechnung in Betracht.[11]
Der Begriff des Amtsträgers entspricht dem aus Abs. 3 Satz 2 Nr. 2.
Der Täter muss erkennen, dass es sich um einen Amtsträger handelt und dass dieser ihm bei der Steuererklärung behilflich ist. Kein Fall der Mithilfe ist es überdies, wenn der Täter die Unwissenheit des Amtsträgers ausnutzt (Konstellation der mittelbaren Täterschaft).[12]
Ein besonders schwerer Fall liegt auch dann vor, wenn der Täter zur fortgesetzten Begehung von Steuerhinterziehungen nachgemachte oder verfälschte Belege verwendet.
Um nachgemachte oder verfälschte Belege handelt es sich nur in Fällen unechter Urkunden i.S.d. § 267 Abs. 1 StGB.[13] Bloße schriftliche Lügen (z.B. Gefälligkeitsrechnungen, deren wahrer Aussteller auf der Rechnung als Rechnungssteller ausgewiesen wird) fallen nicht unter § 267 Abs. 1 StGB und damit nicht unter Abs. 3 Satz 2 Nr. 4.
Fortgesetzte Begehung von Steuerhinterziehung setzt mindestens drei Steuerhinterziehungen voraus, für die der Täter jeweils nachgemachte oder verfälschte Belege eingesetzt hat. Dabei stellen die ersten beiden Taten noch keinen besonders schweren Fall dar, sondern erst die dritte sowie die ggf. folgenden Taten sind von der Strafrahmenverschiebung betroffen. [14]
Ein Verwenden liegt nicht schon dann vor, wenn der Täter die unechten Urkunden vorsorglich aufbewahrt[15], sondern erst, wenn er diese als Belege zu einer Steuererklärung beim Finanzamt einreicht oder einem Betriebsprüfer vorlegt.[16]
Eine Bande setzt drei Mitglieder voraus.[17] Weitere Voraussetzung ist eine Bandenabrede, die beinhaltet, dass sich die drei Mitglieder zur fortgesetzten Begehung von Umsatz- und / oder Verbrauchssteuerhinterziehungen zusammengeschlossen haben.[18] Eine Bandenstruktur im Sinne einer hierarchischen Organisation soll hierfür nicht erforderlich sein.[19] Die Planung fortgesetzte Begehung setzt voraus, dass die Bande mehrere im Einzelnen ggf. noch ungewisse Taten begehen will. Liegt ein solcher Plan in Gestalt der Bandenabrede vor, erfüllt bereits die erste Tat die Voraussetzungen des Regelbeispiels.[20]
Das Regelbeispiel zielt auf die Erfassung von Steuerhinterziehungen im Rahmen organisierter Kriminalität ab, die insbesondere in Form von Umsatzsteuerkarussellen in Erscheinung treten.[21] In diesen Fällen wird allerdings auch typischerweise das Regelbeispiel Nr. 1 (großes Ausmaß) erfüllt sein, so dass es unter Strafzumessungsgesichtspunkten einer eigene Erfassung in Nr. 5 nicht bedurft hätte. In § 100a Abs. 2 Nr. 2a StPO wurde jedoch bis 2021 das Regelbeispiel des Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 aufgeführt, so dass der Verdacht auf eine Steuerhinterziehung nach diesem Regelbeispiel die Telekommunikationsüberwachung rechtfertigte. Durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2021[22] wurde in § 100a Abs. 2 Nr. 2a StPO jedoch auch das Regelbeispiel der Nr. 1 (großes Ausmaß, allerdings unter der zusätzlichen Voraussetzung der bandenmäßigen Begehung) erfasst, so dass die besondere Bedeutung für das Regelbeispiel Nr. 5 insoweit weitgehend entfallen ist.[23]
Das jüngste Regelbeispiel in Nr. 6 wurde aufgrund der Erkenntnisse aus den sogenannten Panama-Papers in das Gesetz aufgenommen, um dem dort offenbarten Vorgehen einiger Steuerpflichtiger, sogenannte Offshore-Gesellschaften zu gründen, um Gewinne und insbesondere Kapitalerträge verschleiern zu können, zu begegnen.[24]
Schwierigkeiten in der Auslegung der Vorschrift bereiten die unklaren Merkmale „unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden oder bestimmenden Einfluss ausüben kann“ sowie „zur Verschleierung steuerlich erheblicher Tatsachen nutzt“.[25] Für letzteres wird zutreffend darauf hingewiesen, dass eine Verschleierung steuerlich erheblicher Tatsachen nur dann in Frage kommen kann, wenn diese Tatsachen in Wahrheit den Täter persönlich betreffen und diese nur vordergründig und insbesondere nicht steuerrechtswirksam der jeweiligen Drittstaat-Gesellschaft zuzurechnen sind, indem diese z.B. als Treuhänderin (s. § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO) eingesetzt wird.[26]
Auch hier stellt sich die Frage, welchen effektiven Anwendungsbereich im Sinne eines Lückenschlusses das Regelbeispiel hat. In den typischen Fällen der Offshore-Gesellschaften dürften die Hinterziehungsbeträge das große Ausmaß der Nr. 1 erreichen oder übertreffen. Es bleibt vermutlich ein anzahlmäßig kleinerer und betragsmäßig unbedeutenderer Bereich, der allein durch die Nr. 6 erfasst wird.[27]
[1] BGH, Urteil vom 02. Dezember 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 38 f.
[2] BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 1 StR 373/15, BGHSt 61, 28 Rn. 32 ff.
[3] Peters in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, 253. Lieferung, 07.2019, § 370 Rn. 741 ff.; [3] Schmitz/Wulf, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2023, § 370 AO Rn. 537 ff.
[4] Jäger, in: Klein, AO, 18. Aufl. 2024, § 370 Rn. 284
[5] Grötsch in: Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 9. Aufl. 2023, § 370 Rn. 570
[6] Schmitz/Wulf, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2023, § 370 AO Rn. 540
[7] BGH, Urteil vom 02. Dezember 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 40, Jäger, in: Klein, AO, 18. Aufl. 2024, § 370 Rn. 280
[8] BGH, Beschluss vom 22. Januar 2018 – 1 StR 535/17, DStR 2018, 2380 Rn. 16 ff
[9] BGH, Beschluss vom 22. Januar 2018 – 1 StR 535/17, DStR 2018, 2380 Rn. 20 ff.; Grötsch in: Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 9. Aufl. 2023, § 370 Rn. 571 f.; Näheres s. u. „Konkurrenzen“
[10] Krumm, in: Tipke/Kruse Kommentar zur AO und FGO, 170. Lieferung 05.2022, § 370 Rn. 204
[11] Jäger, in: Klein, AO, 18. Aufl. 2024, § 370 Rn. 287
[12] Rolletschke, Steuerstrafrecht, 5. Aufl. 2021, S. 160
[13] BGH, Beschluss vom 16. August 1989 – 3 StR 91/89, BeckRS 31106088, Jäger, in: Klein, AO, 18. Aufl. 2024, § 370 Rn. 295; Rolletschke, Steuerstrafrecht, 5. Aufl. 2021, S. 160
[14] Jäger, in: Klein, AO, 18. Aufl. 2024, § 370 Rn. 296 (hier so interpretiert, dass drei Taten erfolgt sein müssen, dort heißt es: „mindestens zwei StHinterziehungen …, bevor ihn die schärfere Ahndung … trifft“), eindeutig: BGH, Beschluss vom 21.04.1998 – 5 StR 79/98, StV 200, 498 <499>; ebenso BGH, Urteil vom 6. März 2024 – 1 StR 308/23, NJW 2024, 2412 <2415> Rn. 35 f.; Krumm, in: Tipke/Kruse Kommentar zur AO und FGO, 170. Lieferung 05.2022, § 370 Rn. 207
[15] BGH, Beschluss vom 24. Januar 1989 – 3 StR 313/88, NStZ 1989. 272 <273>
[16] BGH, Beschluss vom 25. Januar 1983 – 5 StR 814/82, BGHSt 31, 225 <226>; BGH, Urteil vom 6. März 2024 – 1 StR 308/23, NJW 2024, 2412 <2414> Rn. 34
[17] BGH, Beschluss vom 22. März 2001 – GSSt 1/00 – BGHSt 46, 321 Leitsatz Nr. 1
[18] Heuel, Hilgers-Klautzsch, Ransiek, Schauf, in Kohlmann, Steuerstrafrecht, Stand: 01.10.2024, § 370 AO Rn. 1123
[19] BGH, Urteil vom 14. Juni 2023 – 1 StR 304/22, NStZ 2024, 366 <367> Rn. 15
[20] Jäger, in: Klein, AO, 18. Aufl. 2024, § 370 Rn. 300
[21] Schmitz/Wulf, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2023, § 370 AO Rn. 553
[22] BGBl. 2021 I, 2099
[23] Schmitz/Wulf, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2023, § 370 AO Rn. 550
[24] Jäger, in: Klein, AO, 18. Aufl. 2024, § 370 Rn. 305
[25] Grötsch in: Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 9. Aufl. 2023, § 370 Rn. 584
[26] Schmitz/Wulf, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2023, § 370 AO Rn. 559; Krumm, in: Tipke/Kruse Kommentar zur AO und FGO, 170. Lieferung 05.2022, § 370 Rn. 209c
[27] Insoweit ebenfalls kritisch: Schmitz/Wulf, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2023, § 370 AO Rn. 560